Kein Thema ist derzeit gesellschaftlich so umstritten wie die Migrationspolitik. In keinem Politikfeld liegen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander. In keinem Politikfeld versagt die deutsche Politik so sehr dabei, idealistische und humanitäre Ziele mit der Realität in Einklang zu bringen.
Der Handlungsbedarf ist deutlich. Immer mehr Bürgermeisterinnen und Bürgermeister berichten, dass sie so viele ankommende Personen nicht mehr unterbringen können. Es gibt eine wahrnehmbare Überlastung der Schulen, der Kitas und anderer Teile unserer Infrastruktur. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten kämpfen in ganz Deutschland für Wohnungsbau, für gute Schulen und Kitas, für Polizei und Ordnungsdienste – auch, damit Integration gelingt.
Aber es gibt noch weitere Probleme. Auf den Fluchtrouten sterben täglich Menschen. Eine Folge der immer gefährlicher werdenden Fluchtwege ist ein unausgewogenes Alters- und Geschlechterverhältnis der ankommenden Personen. Zudem wird in der Migrationsdiskussion die Sicherheit der Personen, die bereits in Deutschland leben, zu wenig betrachtet.
Nach langen Verhandlungen haben sich die EU-Staaten jetzt auf ein neues Asylsystem geeinigt. Die Einigung ermöglicht erstmals Asylverfahren an Europas Außengrenzen für Menschen aus sicher geltenden Ländern. Dort wird innerhalb von zwölf Wochen geprüft, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat – wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.
Das neue Verfahren soll nur bei Migranten aus Ländern greifen, die eine Anerkennungsquote von unter 20 Prozent haben. Das gilt etwa für Menschen aus der Türkei, Indien oder Tunesien. Geflüchtete Personen aus Ländern, die von Krieg und Gewalt betroffen sind – etwa aus Syrien, Afghanistan oder dem Sudan – haben weiterhin einen Anspruch auf ein Verfahren innerhalb der EU.
Diese Einigung muss noch mit dem Europäischen Parlament abgestimmt werden und wird noch für hitzige Diskussionen sorgen. Nach Abwägung aller Argumente halte ich die Einigung für einen Schritt nach vorne. Derzeit wandern Menschen über das Asylsystem zu, die von Krieg und Gewalt nicht betroffen sind und eigentlich in ein anderes System gehören. Wir müssen die Rechtskreise Flucht und Migration trennen. Die Strategie der Ampelkoalition, legale Zugangswege in den Arbeitsmarkt zu schaffen und gleichzeitig die irreguläre Migration einzuschränken, ist daher richtig. Das neue europäische Asylsystem geht in dieselbe Richtung. Das ist zu begrüßen.
Vor allem möchte ich aber sagen, dass das derzeitige System keinen Anspruch darauf hat, aus humanitärer oder menschenrechtlicher Sicht verteidigt zu werden. Ja, das deutsche, strikt objektive Asylverfahren ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Doch verbunden damit brauchen wir eine Migrationspolitik, die sowohl geordnet als auch humanitär ist. Unsere jetzige, dysfunktionale Politik ist beides nicht:
- Aufgrund der Abschottungsbemühungen Deutschlands und Europas sind die Fluchtrouten mittlerweile sehr gefährlich. Viele Menschen sterben auf dem Weg.
- Aufgrund der Gefährlichkeit der Fluchtrouten ergibt sich ein unausgewogenes Alters- und Geschlechterverhältnis der ankommenden Personen.
- Nach Deutschland und Europa kommt, wer sich die Flucht leisten kann. Die wirtschaftlich und körperlich schwächsten sowie verwundbarsten Menschen (Frauen und Kinder, lebensältere Personen, Schwangere, allgemein Menschen mit wenig Geld) erreichen uns gar nicht.
- Ohne Zäune, Stacheldraht und Push-Backs an der EU-Außengrenze wäre unser angeblich humanitäres System aus Kapazitätsgründen bereits zusammengebrochen. Ich sehe darin eine Doppelmoral.
- Das jetzige System kann es nicht verhindern, dass vorbestrafte oder gewaltaffine Menschen nach Deutschland einreisen.
Für die SPD ist es in der Migrationspolitik immer wichtig, Humanität und Regulierung miteinander in Einklang zu bringen. In den letzten Jahren ist die Regulierung vernachlässigt worden. Das System wurde zunehmend ungeordnet und die Folge war, dass es im Ergebnis auch nicht mehr humanitär war. Die europäische Einigung ist noch nicht der große Wurf. Aber er ist ein Schritt nach vorne und ermöglicht die Klärung weiterer dringender Fragen.
Ich rechne mit einer breiten Zustimmung aus der SPD für diese Einigung. Das derzeitige System ist dysfunktional und führt zu ungeheurem menschlichem Leid. Die Grünen sollten sich aus meiner Sicht fragen, ob sie dieses System weiter verteidigen wollen. Die Haltung der Grünen in dieser Frage wird meiner Einschätzung nach für die weitere Entwicklung des deutschen Parteiensystems von großer Bedeutung sein.